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Tiere im tim

Im tim (Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg) sind die Tiere los! Jede Menge Tiere, nach Expertenmeinung ca. 500 Exemplare. Große und kleine Käfer, Krokodile, Tiger, Pinguine und viele Arten mehr. Doch was sonst angesichts einer solchen animalischen Invasion im Museum zu Sorge bei den Verantwortlichen führen würde, ist in diesem Fall höchst willkommen.

Schwarzweiß-Foto einer Frau die gerade an dem groben Gerüst eines Basttieres arbeitet, sitz vor einem Bast-Elefanten und einer Bast-Giraffe.
© tim; Foto: Privat

Denn die Tiere sind ungefährlich für die Sammlung, bestehen sie doch allesamt aus dem textilen Material Bast - hergestellt vor vielen Jahrzehnten in der „Bastowerkstatt“ von Else Stadler-Jacobs im Pähler Ortsteil Aidenried am Ammersee. Von dort aus gingen die liebevoll entworfenen Geschöpfe der erfolgreichen Unternehmerin einst in die ganze Welt. Doch beinahe wären Jacobs faszinierende Ideen und Arbeiten in Vergessenheit geraten, hätte es da nicht diesen spektakulären Dachbodenfund in einer Münchner Villa gegeben. Denn der förderte einen wahren Schatz zu Tage, der seit dem 17. November 2023 in der Ausstellung „TIERE IM TIM“ erstmals öffentlich zu bestaunen ist.

Die Entdeckung

Ein halbes Jahrhundert lang lagerten unentdeckt auf einem Speicher eines Hauses im Münchner Stadtteil Pasing unzählige Kartons mit über 600 kunsthandwerklich hochwertigen Tieren aus Bast. Es handelte sich dabei um den Nachlass von Else Stadler-Jacobs, die ab 1927 unzählige dieser Tiere als Dekorationsobjekte herstellte und bis in die 1970er Jahre unter dem Namen „Bastowerkstatt“ weltweit verkaufte.

Die Künstlerfamilie Jacobs aus Pasing

Else Stadler-Jacobs wurde 1899 in München geboren und wuchs in einem künstlerischen Umfeld auf. Ihr Vater, der Dekorationsmaler Carl Jacobs, besuchte die Königliche Kunstgewerbeschule München und gestaltete als Mitinhnaber der Firma Jacobs & Kainz zahlreiche private und öffentliche Gebäude.  1909 zog die Familie in ein neues, stattliches Haus in Pasing, mit eigenem Atelier und Fotolabor. Im großen Garten begab sich die zehnjährige Else mit ihrem Kater auf Entdeckungstour, erforschte Schnecken, Käfer und heimische Vögel. Die Eltern förderten früh das musisch-kreative Talent ihrer Tochter durch Klavier-, Gesangs- und Zeichenunterricht. Else besuchte die höhere evangelische Töchterschule von Berta Hamer in einem Schulhaus, das der Jugendstilarchitekt Richard Riemerschmid 1914 errichtet hatte. Unter seiner Leitung stand auch die Königliche Kunstgewerbeschule München, an der Else nach ihrem Schulabschluss ab 1917 studieren sollte.

Basttiere als Dekorationsobjekte

Drei Frauen sitzen in einem Raum um einen großen Holztisch und arbeiten an Basttieren. An der Wand steht eine Regalwand die vollgestellt ist mit den unterschiedlichsten Basttieren. Auch auf dem Boden stehen Bastpudel und Bastschafe.
© tim; Foto: Privat

Die Tiere der „Bastowerkstatt“ waren nicht als Kinderspielzeug gedacht, sondern als kunsthandwerklich hochwertige Dekorationsobjekte. Selbst robustere Modelle hätten durch Kinderhände schnell Schaden genommen und an Form verloren. Für ihre Enkel machte Else Stadler-Jacobs später jedoch eine Ausnahme und fertigte einige Tiere speziell auf deren Wunsch als Spielzeug an.

Bast – universelles Material für die „Bastowerkstatt“

Im Vordergrund ein Bastschwein und ein Bastkrokodil. Im Hintergrund liegen die gefärbten Bastfasern.
© Christoph Sauter

Als Else Stadler-Jacobs Anfang der 1920er Jahre mit Raffia-Bast experimentierte, stellte das im Kunsthandwerk ein Novum dar. Das besonders reißfeste und kostengünstige Material war bis dahin lediglich im Gartenbau, als Hobby-Werkstoff und als Ersatzmaterial in der Korbindustrie bekannt. Zunächst verwendete Else Stadler-Jacobs gefärbten Bast für unterschiedliche Stickarbeiten. Für die Tiere ihrer „Bastowerkstatt“ lotete sie die vielfältigen Möglichkeiten des Materials weiter aus und erzeugte damit unterschiedlichste Texturen: von glatter Schlangenhaut bis zu struppigem Fell. Sie färbte, stickte, webte, wickelte und knotete mit Raffia-Bast und erschuf damit ihre einzigartige Tierwelt.

Die robusten Raffia-Fasern stammen aus den sogenannten Fiederblättern der Raffia-Palme, die hauptsächlich in Madagaskar, West- und Ostafrika beheimatet ist. Um die Fasern zu gewinnen, „entfleischt" man die abgeschnittenen Palmblätter und trocknet sie an der Sonne. Anschließend gilt es, jede Faser der Länge nach entweder mit den Fingern, einem Kamm oder einer Muschel abzuspalten, so dass ein 90 bis 120 cm langer seidener Strang entsteht. Raffia-Fasern glänzen seidig, sind fest und dehnbar und daher gut zu verarbeiten. Raffia dient vornehmlich als Binde- und Flechtmaterial im Garten- und Obstbau sowie für kunsthandwerkliche Arbeiten, wie Matten, Körbe oder Hüte.

Färben von Bast

Else Jacob und ihre Mitarbeiterin arbeiten an jeweils einem Basttier.
© Anna Jacobs

Handelsüblicher Bast war nur in wenigen Farben erhältlich. Den künstlerischen Ansprüchen von
Else Stadler-Jacobs genügte diese spärliche Farbauswahl nicht. Um ihre Tiere möglichst naturgetreu
darstellen zu können, benötigte sie eine Vielzahl feiner Farbabstufungen. Deshalb färbte sie
die Naturfasern selbst und erweiterte so ihre Farbpalette um eine Vielzahl unterschiedlichster Nuancen
- vom dezenten Rosa bis zum knalligen Königsblau. Da die Farben nicht lichtecht waren,
verblassten sie mit der Zeit und verloren ihre ursprüngliche Leuchtkraft. Auf dem Kachelofen ihrer
Werkstatt erhitzte Else Stadler-Jacobs Wasser in einem großen Topf und mischte darin die
einzelnen Farbtöne aus Pigmentpulvern an. Die zuvor eingeweichten Bastfasern wurden in der
Farblösung so lange bewegt, bis die gewünschte Farbintensität erreicht war. Anschließend hing
sie die eingefärbten Faserstränge zum Trocknen an Schnüren auf.

Von der Zeichnung zum Tier

Um charakteristische Formen und Wesenszüge eines Tieres herauszuarbeiten, studierte Else Stadler- Jacobs reale Tiere in zoologischen Gärten und füllte zahllose Skizzenbücher mit Studien und Zeichnungen. Dieses exakte Naturstudium erschien ihr notwendig, um die Basttiere später auf das Wesentliche zu reduzieren und ihnen ihr arttypisches Aussehen zu verleihen - mit viel Humor und einer unverkennbar persönlichen Handschrift. Unterstützung erhielt sie dabei von ihrem Vater Carl, der für seine Arbeit als Dekorationsmaler häufig lebende Tiere studierte.

So wird's gemacht: die Entstehung eines Basttiers

Zwei Tiger auf Bast. Einer ist fertiggestellt und bei einem erkennt man nur die Grundstruktur.
© Christoph Sauter

Der Herstellungsprozess erforderte neben handwerklichem Geschick vor allem kräftige Hände. Trotz hoher Verkaufszahlen blieb die „Bastowerkstatt“ stets eine Manufaktur - jedes Tier wurde von Anfang bis Ende handgefertigt. Feine Unterschiede in Ausdruck und Form waren durchaus erwünscht und machten die Tiere zu Unikaten.

Konstruieren / Drahtmodell

Die Basis der Tiere bildete gebogener Draht. Durch dieses „Gerüst" erhielten die Tiere ihre Stabilität. Außerdem ließen sich die Drahtformen gut vergrößern und verkleinern und erlaubten es, unterschiedliche Tiergrößen festzulegen.

Modellieren / Holzwolle-Unterbau

Mit grober und feiner Holzwolle wurde der Körper um den Draht herum modelliert, sodass nach diesem Schritt bereits das Tier als Rohling erkennbar war.

Gestalten / Bast-Umwicklung

Die Heimarbeiterinnen umwickelten die Rohlinge mit farbigem Bast, wodurch ein- oder mehrfarbige Grundkörper mit glatter Oberfläche entstanden. Die Enden der Bastfäden wurden vernäht, damit sie sich nicht lösten.

Lasst euch inspirieren auf @timbayern.de (externer Link, öffnet neues Fenster)

Mensch – Maschine – Muster – Mode: Die vier M stehen im Zentrum des Textil- und Industriemuseums, kurz tim genannt. 

tim – Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg

In den denkmalgeschützten Gebäuden der früheren Augsburger Kammgarnspinnerei wird somit der Ausflug in die Textilherstellung auch zu einer spannenden und interaktiven Zeitreise durch die Geschichte der Industrialisierung Bayerns.

Ein Gastbeitrag des tim – Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg