Museen haben das Potenzial durch Ausstellungen und Rahmenprogramme gesellschaftspolitisch relevante Themen aufzugreifen und diese zu verhandeln. Sie sind nicht als passive Beobachter oder neutrale Wissensvermittler zu verstehen, sondern vielmehr als aktive Akteure der Wissensproduktion und -präsentation. Was wir im Museum sehen, prägt unser Verständnis von Kunst, Kultur und Gesellschaft. Umso wichtiger ist es als Museum diese Verantwortung ernst zu nehmen und auf unterschiedliche Perspektiven und gesellschaftliche Gruppen ein- und zuzugehen, sie zu beteiligen und dabei zu hinterfragen: Wer macht für wen mit welchen Themen Museum? Dies deckt sich nicht nur mit der Museumdefinition der ICOM, die Museen als Förderer von Diversität ausweist und zur partizipativen Zusammenarbeit mit Communities aufruft. Auch der von ICOM Deutschland, dem Deutschen Museumsbund (DMB) und der Konferenz der Museumsberatungsstellen in den Länder (KMBL) formulierte Leitfaden „Standards für Museen“ legt den Gedächtnisinstitutionen nahe, das eigene Profil zu schärfen und „in Hinsicht auf gesellschaftliche Herausforderungen anschlussfähig zu gestalten“.
Eine dieser aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen sind die rechtspopulistischen bis rechtsextremen Angriffe auf das demokratische Fundament unseres Zusammenlebens. Damit verbunden sind auch Attacken auf marginalisierte Gruppen, die diffamiert, diskriminiert und wieder aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden sollen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig Museen als politische Akteure sind. Neben dem Ausstellen, Sammeln, Bewahren und Erforschen können sie auch Plattformen für Dialog und Reflexion sein. Indem Museen diese Verantwortung wahrnehmen und aktiv Position beziehen, können sie zu einem Raum für gesellschaftliche Transformation werden und ihr Potenzial als kulturelle und politische Akteure entfalten.
München sucht seine LGBTIQ* Geschichte
Das Münchner Stadtmuseum ist das kulturelle und materielle Gedächtnis der Stadt und veranschaulicht auf vielfältige Art und Weise die Entwicklungen der Stadt. Die Sammlung Stadtkultur legt dabei ein besonderes Augenmerk auf gegenwartsbezogene und stadtgesellschaftlich prägende Themen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Gruppen und Themen in den Mittelpunkt zu rücken, die in der Geschichtsschreibung der Stadt lange Zeit vernachlässigt wurden, die jedoch integraler Bestandteil der Münchner Stadtgesellschaft sind. So ist etwa neben der Migrationsforschung (externer Link, öffnet neues Fenster) ein weiterer Schwerpunkt auf die Sammlungstätigkeit zur Münchner LGBTIQ*-Geschichte gelegt worden. In Kooperation mit dem Forum Queeres Archiv München e.V. und dem Stadtarchiv München wurde Anfang 2019 der Sammlungsaufruf "München sucht seine LGBTIQ*-Geschichte" (externer Link, öffnet neues Fenster) veröffentlicht. Der Sammlungsaufruf war Grundlage und Startschuss, die eigenen Sammlungslücken zu schließen und das Sammeln von queerer Stadtgeschichte übergreifend auszubauen und zu systematisieren. Denn was nicht in Depots und Archiven zu finden ist, kann nicht bewahrt, erforscht, repräsentiert und erzählt werden. Gesucht wird fortlaufend nach persönlichen Erinnerungsstücken und Alltagsgegenständen, wie Fotografien, Video- und Tonaufnahmen, Drucksachen, Transparente, Tagebücher, Kleidungsstücke sowie weitere Gegenstände und Unterlagen, die das Leben von queeren Personen aus München und das Wirken der LGBTIQ*-Communitys sowie der lesbisch-feministischen Frauenbewegung darstellen und als Informationsträger für die Zukunft queere Geschichte bewahren können. Mittlerweile sind um die 1000 Objekte in der Museumsdatenbank mit dem Schlagwort „LGBTI“ versehen. Einen kleinen Auszug daraus vermittelt das Sammlung Online Album (externer Link, öffnet neues Fenster).
Dabei werden nicht nur Gegenstände gesammelt, die von der vergangenen queeren Geschichte erzählen. Wie etwa die Einladungskarte zu Freddie Mercurys 39. Geburtstag im Henderson 1985:
Die Einladungskarte greift dabei nicht nur das Motto "A Black and White Drag Ball" grafisch auf. Sie gab auch schon einen Hinweis auf Freddie Mercurys Outfit für diesen Abend. Impressionen von der Party sind im Musikvideo zum Queen-Song "Living on my Own" zu sehen, das am selben Abend aufgenommen wurde. Freddie Mercury lebte und feierte von 1979 bis Mitte der 80er Jahre im Münchner Glockenbachviertel. In dieser Zeit entstanden in den Münchner Musicland Studios vier Studioalben von Queen sowie Freddie Mercurys Solo-Album.
Auch gegenwärtige queere Geschichte, die von aktuellen Veränderungen und Neuanfängen erzählt, wird in die Sammlung aufgenommen.
Mit der Schließung von Lillemor’s Frauenbuchladen 2023 ging die 48-jährige Geschichte des ersten Frauenbuchladens Deutschlands zu Ende. Die Nachfolge übernahm ein Kollektiv, das fort an in denselben Räumen den queer-feministischen Buchladen glitch ehrenamtlich betreibt und sich so dem Verlust eines weiteren feministischen Ortes in München widersetzt. Neben dem Verkauf von ausgewählten Büchern zu queeren, feministischen und gesellschaftskritischen Themen, dient glitch auch als Begegnungs- und Veranstaltungsort.
Queere Geschichte Ausstellen
Um queere Geschichte als selbstverständlichen Teil der Stadtgesichte darzustellen, reicht es nicht sie ‚nur‘ zu sammeln. Erst Ausstellungen machen sie für ein breites Publikum erfahrbar und ermöglichen die Repräsentation von queeren Leben. In der Ausstellung „Nachts. Clubkultur in München“ (2021-2024, Münchner Stadtmuseum) wurde an verschiedenen Stellen auch auf die queere Ausgehgeschichte der Stadt eingegangen. So wurde im Modul zur Bedeutung von Mode und Tanz als Identifikationsmittel dieses T-Shirt gezeigt.
Das T-Shirt stammt von einer feministisch geprägten lesbischen Frau, die sich nach ihrem Outing beim Ausgehen wünscht, von Gleichgesinnten erkannt zu werden. Sie entscheidet sich für dieses T-Shirt, auf dem sie zwei Venussymbole ausmacht. Erst viel später bemerkt sie, dass darauf zwei sich küssende Frauen abgebildet sind. Die vermeintlichen Venussymbole sind tatsächlich die Umrisse der Kopfhörer, die die beiden Frauen tragen. Die Botschaft des T-Shirts war demnach zwar weniger subtil, als dessen Besitzerin ursprünglich gedacht hatte, es gefiel ihr zu diesem Zeitpunkt jedoch umso mehr.
Anhand dieser Objektgeschichte lässt sich nicht nur veranschaulichen, wie ein Outing das eigene Selbstbewusstsein stärken kann, sondern vor allem auch, dass über Mode und Kleidung ein Zugehörigkeitsgefühl ausgedrückt werden kann.
Ein weiteres Sammlung Online Album (externer Link, öffnet neues Fenster) zeigt Objekte die ebenfalls in der Ausstellung „Nachts.“ zu sehen waren, und die die besonderen Bedeutung queerer Bars, Kneipen und Clubs als Orte für die kollektive Identitätsfindung zeigen.
Ein Kapitel der sich aktuell in Planung befindliche Ausstellung „What the City. Perspektiven unserer Stadt“ (Eröffnung Frühjahr 2025), wird auf die queere Protestkultur in München eingehen. Die Ausstellung setzt sich mit verschiedenen Perspektiven auf die Stadt München, ihren historischen Entwicklungen und aktuellen Zukunftsentwürfen auseinander.
Anhand von teils originalen, teils reproduzierten Protestschildern werden die Forderungen und Errungenschaften der queeren Communities in München seit den 1970er Jahren erzählt. Der inszenierte Protestzug verdeutlicht, dass es sich um eine soziale Bewegung handelt, die sich selbst organisiert und aktiv für Selbstbestimmung und rechtliche Gleichstellung eintritt. Dass die erkämpften Freiheiten keine Selbstverständlichkeiten sind und wieder durch rechts-populistische und antifeministische Stimmungsmache bedroht werden, unterstreicht die Aktualität des fortwährenden Einsatzes politisch aktiver und engagierter queerer Menschen.
Kooperationen
Neben den klassischen musealen Aufgaben können Museen auch als städtisches Forum und sozialer Treffpunkt dienen. Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Gruppen ermöglichen nicht nur eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen, die das Leben in München besonders prägen. Sie bieten auch die Chance, ein bislang museumsfernes Publikum zu erreichen.
Rund um die Prideweeks im Juni 2023 übernahm das LGBTIQA* Kollektiv queer:raum die Galerie Einwand des Münchner Stadtmuseums. Die Galerie Einwand war ein Ort für Veranstaltungen und Ausstellungen zur Geschichte und Gegenwart des postmigrantischen München. Während der zehntägigen Residency erarbeiteten die Kunstschaffenden ein kollaboratives und interdisziplinäres Kunstwerk, das sich inhaltlich dem queeren Leben in München aus einer postmigrantischen Perspektive widmete. Das entstandene Kunstwerk „Wer bin ich wo?“ wurde nach anschließender dreiwöchiger Ausstellung in die Sammlung Stadtkultur übernommen.
Zum Höhepunkt der PrideWeeks wurde zudem im Innenhof des Münchner Stadtmuseums eine eigenes Partyareal eingerichtet und gemeinsam mit dem queer-inklusiven Münchner Kollektiv LOVERS eines der größten Lip-Sync-Battle der Münchner Stadtgeschichte veranstaltet. Die Krone der Gewinnerin des All-Star-Lip-Sync-Battles wurde nach der Veranstaltung der Sammlung Stadtkultur übergeben.
Abschließend lässt sich festhalten, dass das Sammeln und Bewahren von queerer Stadtgeschichte weder selbstverständlich noch ein Selbstläufer ist. Um als Speicher queerer Stadtgeschichte von den Communities wahrgenommen zu werden, ist es notwendig immer wieder aktiv den Kontakt zu queeren Personen und Aktiven aus entsprechenden Vereinen, Initiativen, Gruppen und Netzwerken zu suchen. Nur so kann Vertrauen in die städtischen und staatlichen Gedächtnisinstitutionen aufgebaut werden, die die Anliegen und die Geschichte queerer Menschen viel zu lange ignoriert haben. Und nur durch das kontinuierliche Sammeln und Bewahren queerer Geschichte kann der deutlichen Unterrepräsentation von LGBTIQ* im institutionell kanonisierten, kulturellen Gedächtnis der (Stadt-)Gesellschaft entgegengewirkt werden.
Ein Gastbeitrag des Münchner Stadtmuseums
Pia Singer
Aufgrund des vom Bayerischen Ministerrat am 19. März 2024 beschlossenen Verbots der Gendersprache in den Behörden des Freistaats wurde dieser Gastbeitrag dementsprechend angepasst.