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Gegen das Vergessen - das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos

Nicht vergessen und nicht vergessen werden, Alltag, Unrecht, Leid und Sterben dokumentieren... dafür hat Emanuel Ringelblum sein Leben riskiert. Der jüdische Historiker gründete im Warschauer Ghetto unter dem Decknamen Oneg Shabbat (hebräisch עונג שבת – Freude des Sabbat) eine Forschungsgruppe und sammelte Briefe, Fotografien und Dokumente. Das Ringelblum-Archiv wird heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. In der Ausstellung "Wichtiger als unser Leben" sind im NS-Dokumentationszentrum in München nun auch Stücke in Deutschland zu sehen. Eine jüdisch-polnisch-deutsche Spurensuche, die uns von Warschau nach München führt...

 

Eine schwarze Wand mit mehreren Schwarzweiss-Fotografien der Mitglieder von "Oneg Shabbat".
Eine Fotowand einiger Mitglieder von Oneg Shabbat © Infopoint Museen & Schlösser in Bayern

Der Nachwelt "die Wahrheit entgegenschreien", sammeln, was sie konnten, dokumentieren, festhalten, damit wenigstens etwas von ihnen überlebt – selbst in der Extremsituation und unter ständiger Lebensgefahr im Warschauer Ghetto war der zutiefst menschliche Impuls zu erinnern da. 

Der Historiker Emanuel Ringelblum, Intiator des geheimen Untergrundarchivs, überlebte nicht. Zwar gelang ihm 1943 die Flucht aus dem Ghetto und er konnte sich am Stadtrand von Warschau verstecken, doch 1944 wurde er verraten und mit seinen Angehörigen und der polnischen Familie, die sie beherbergt hatte, hingerichtet. 

Erst im September 1946 konnte der erste Teil des Archivs sicher gestellt werden, doch war er durch Wasser beschädigt worden. Der zweite, wesentlich besser erhaltene Teil des Archivs in versiegelten Milchkannen wurde 1950 zufällig bei Bauarbeiten am selben Ort gefunden. 

Emanuel Ringelblum, seine Mitstreiter und MitstreiterInnen erreichten, was sie wollten: die Erinnerung an die Menschen lebt weiter. Auf Basis der wiedergefundenen Dokumente entstanden die ersten wissenschaftlichen Artikel über die Shoah im besetzten Polen und auch in Prozessen gegen NS-Täter dienten sie als Beweismittel.

Wichtiger als unser Leben - die Ausstellung im NS-Dokuzentrum München

Zeitdokumente aus dem Ringelblum-Archiv, die sonst im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt werden, haben ihren Weg ins NS-Dokumentationszentrum in München gefunden und sind in der Ausstellung "Wichtiger als unser Leben" (externer Link, öffnet neues Fenster)noch bis 7. Januar zu sehen.

Das Ringelblum-Archiv  ist ein einzigartiges Vermächtnis des polnischen Judentums. Es ist ein beispielloser Akt des Widerstands und der Selbstbestimmung – und der Versuch, die Shoah unmittelbar und im Moment ihres Geschehens zu dokumentieren.

Oneg Shabbat und das Ringelblum-Archiv

Emanuel Ringelblum (1900-1944) wollte, dass die Nachwelt vom Leben und Sterben im Ghetto erfährt. Gemeinsam mit etwa 60 Gleichgesinnten, denen bewusst war, in welcher extremen Lage sie sich befanden, sammelte er heimlich zehntausende Dokumente in polnischer, jiddischer, hebräischer und deutscher Sprache: Tagebücher und Theaterkarten, Anzeigen und Statistiken, Berichte aus jüdischen Gemeinden im gesamten besetzten Polen, Schulaufsätze, Abhandlungen zu einzelnen Aspekten des Ghettolebens, persönliche Briefe und amtliche deutsche Dokumente wie Plakate, Ausweise und Lebensmittelkarten. Auch rund 70 Fotografien und mehr als 300 Zeichnungen und Gemälde sind Teil des Archivs.

Das Warschauer Ghetto

Luftaufnahme des Warschauer Ghettos auf schwarzem Grund
Im Warschauer Ghetto lebten 460.000 Menschen auf engstem Raum © Infopoint Museen & Schlösser in Bayern

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 3,3 Millionen Jüdinnen und Juden in Polen. Warschau war das kulturelle, religiöse und politische Zentrum dieser vielfältigen Gemeinschaft. Im Herbst 1940 entstand das größte Ghetto Europas. Bis 1941 wuchs die Bevölkerung des Warschauer Ghettos auf 460.000 Menschen an. Unterbringung, Lebensmittelversorgung und hygienische Verhältnisse waren katastrophal. Seuchen verbreiteten sich, viele Menschen starben an Entkräftung. Im November 1941 wurde das Areal durch Mauern vom Rest der Stadt abgeschottet. Fast ein Drittel der Bevölkerung Warschaus musste nun auf 2,4 Prozent des Stadtgebiets leben.

Am 22. Juli 1942 begann die Deportation der jüdischen Einwohnerschaft des Warschauer Ghettos in das Vernichtungslager Treblinka. Fast zwei Monate lang mussten sich Tag für Tag tausende Menschen zum Abtransport melden – rund 300.000 Männer, Frauen und Kinder wurden verschleppt und ermordet.

Die Menschen im Warschauer Ghetto versuchten verzweifelt, das soziale und kulturelle Leben aufrechtzuerhalten: Schulen für Kinder, Hilfe, soweit möglich, für die Ärmsten. Sie feierten Hochzeiten und trauerten um die vielen Toten. Sie stellten Untergrundzeitschriften her und versuchten, sich so gut wie möglich zu informieren – ein Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

What we have been unable to shout to the world - die Ausstellung im Jüdischen Historischen Institut Warschau

Die Mitglieder von Oneg Shabbat (Freude des Sabbat), so der Deckname, trafen sich jeden Samstag. Unter ihnen waren JournalistInnen, ÖkonomInnen, LehrerInnen, RabbinerInnen und SchriftstellerInnen. Einige von ihnen zählten zu den führenden Mitgliedern des zivilen Widerstands im Warschauer Ghetto. Nicht alle Namen der Mitglieder sind bekannt, 36 Biografien konnten rekonstruiert werden. Nicht von allen sind Fotos erhalten. 

In der Dauerausstellung "What we could not shout to the world" im Jüdischen Historischen Institut Warschau (externer Link, öffnet neues Fenster) sind die Zeitdokumente bewahrt und einsehbar. Das Forschungsinstitut in der ehemaligen Judaistischen Hauptbibliothek ist eines der bedeutendsten Sammlungen zu jüdischer Geschichte in Polen.

"Die Wahrheit, die wir der Welt nicht entgegenschreien konnten, haben wir in der Erde vergraben" 

David Graber, 19, Mitglied von Oneg Shabbat

Die Männer und Frauen von Oneg Shabbat wurden unweigerlich zu Chronisten der Shoah. Sie leiteten aktuelle Mitteilungen und Berichte über die Mordaktionen an den polnischen Widerstand außerhalb des Ghettos weiter. So erfuhr auch die polnische Exilregierung in London von den Deportationen und alarmierte die Alliierten. Die Berichte gehören zu den ersten Versuchen, die Shoah im Augenblick ihres Geschehens zu beschreiben.
Im Sommer 1942, angesichts der Deportationen nach Treblinka, beschloss Oneg Shabbat, das bisher gesammelte Material zu verstecken. David Graber, 19 und Nachum Grzywacz, 17, waren dabei, als Teile des Archivs in zehn Blechkisten verpackt und im Keller einer Schule vergraben wurden. Ein zweiter Teil des Archivs wurde Anfang Februar 1943 am selben Ort in zwei Milchkannen versteckt. Weitere Dokumente wurden möglicherweise im April 1943 vergraben – und sind bis heute verschollen.

"To, czego nie mogliśmy wykrzyczeć przed światem, zakopaliśmy w ziemi"

David Graber, 19, Mitglied von Oneg Shabbat

Nur etwa 60.000 Menschen blieben im verkleinerten "Restghetto" zurück. Sie wussten, dass auch sie bald ermordet werden würden. Aber sie gingen nicht kampflos in den Tod. Sie bauten Tunnel und Bunker und organisierten heimlich Waffen. Als die Deutschen im April 1943 in das Ghetto eindrangen, um es zu räumen, stießen sie auf Gegenwehr. Fast einen Monat lang hielten die jüdischen Kampfeinheiten sich, dann wurde das Ghetto von deutschen Truppen Haus für Haus dem Erdboden gleichgemacht. Nur die Kirche St. Jakobus blieb inmitten der Trümmer stehen.

Der Aufstand im Warschauer Ghetto ist der bedeutendste Aufstand von Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg.

Die meisten Mitglieder von Oneg Shabbat starben bei den Deportationen oder wurden in den Vernichtungslagern ermordet. Einige kamen beim Ghettoaufstand ums Leben.

Rachela Auerbach - Geschichte schreiben

Nur drei Mitglieder von Oneg Shabbat überlebten - unter ihnen war die Journalistin und Schriftstellerin Rachela Auerbach (1903–1976). Sie setzte sich nach dem Krieg vehement dafür ein, das Ringelblum-Archiv im völlig zerstörten Warschauer Ghetto zu bergen. Die Suche dauerte über zwei Jahre.

Rachela Auerbach etablierte Überlebendenberichte als elementaren Bestandteil der Holocaustforschung. Sie gab den vielen, die nicht überlebten, einen Namen, eine Identität und eine Stimme. 
Im Warschauer Ghetto leitete die Journalistin eine Suppenküche und arbeitete für Emanuel Ringelblums Untergrundarchiv. In Ihrem Tagebuch, das in der Metallkiste versteckt wurde, schildert sie eindrücklich die unmenschliche Realität. Bereits 1942 schreibt sie darin auch von Massenerschießungen und Gaskammern.
1943 gelang ihr die Flucht, und sie überlebte in ihrem Versteck. Nach Kriegsende führte Auerbach die Arbeit des Ringelblum-Archivs in der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen fort.
1947 veröffentlichte sie einen umfassenden Bericht über das Vernichtungslager Treblinka. 1950 emigrierte sie nach Israel und leitete wenig später die Abteilung für Zeitzeugenberichte von Yad Vashem. Sie kämpfte unermüdlich darum, den Opfern einen Platz in der Geschichte des Holocaust zu sichern. Dies war für sie eine selbstverständliche Pflicht und Folge des eigenen Überlebens sowie der Verantwortung gegenüber den Ermordeten. 1960 und 1961 unterstützte sie maßgeblich den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und sagte selbst vor Gericht aus.

Text  © Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz (ghwk.de) (externer Link, öffnet neues Fenster)

Erinnerungskultur #GLAMInstawalk

Erinnerungsarbeit ist vielfältig und gesellschaftlich wichtig. Der #GLAMInstaWalk ist eine gemeinsame Initiative der Münchner Kulturhäuser und Gedenkstätten. GLAM steht für Galleries, Libraries, Archives and Museums. Aktuelle Ausstellungen und Projekte werden gemeinsam vor Ort erkundet und dem eigenen Publikum präsentiert. Erster Termin im Oktober 2023: Münchner Kulturhäuser besuchten gemeinsam die Ausstellung „Wichtiger als unser Leben. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos“ des NS-Dokumentationszentrums und verknüpfen das #Ringelblum-Archiv mit ihren eigenen Themen und Sammlungen. Die Postings, Blogartikel, Podcasts und TikTok-Beiträge der beteiligten Häuser des ersten #GLAMInstaWalk-s werden in einer Collection auf Wakelet fest gehalten. Schaut rein, lest mit, kommentiert und verbindet euch mit den Teilnehmenden!

Mehr zur Initiative findet ihr auf Instagram unter #GLAMInstaWalk (externer Link, öffnet neues Fenster)

GLAM steht für Galleries, Libraries, Archives and Museums. Entdeckt die Vielfalt der Erinnerungskultur!

Storytelling-Texte zur Ausstellung "Wichtiger als das Leben" NS-Dokumentationszentrum München, Kuratorin Ulla-Britta Vollhardt

Bianca Faletti, Hanna Hillenbrand & Nathalie Schwaiger