Street Art in München

Samstags um 11 Uhr ist Treffpunkt, gleich neben der Surfer-Welle am Haus der Kunst, vor dem Kiosk "Fräulein Grüneis". Die erste Radtour nach dem Corona-Lockdown begleitet Stephanie Utz, Mitbegründerin und Leiterin des MUCA, höchstpersönlich. "Ich bin so froh, dass es wieder losgeht", begrüßt sie die Truppe. Normalerweise können bis zu 15 Leute mit fahren, heute sind wir neun - sogar vier Gäste aus Stuttgart sind dabei, extra für die Tour angereist.
1. Stopp: Friedensengel
In Kolonne rollen wir Richtung Friedensengel. Bei dem hohen Radl-Aufkommen in München gar nicht so einfach, sich als Gruppe durchzuschlängeln. Masken auf und ab in den Untergrund: die Fußgängerunterführung an der Luitpoldbrücke ist seit 2011 eine Urban-Art-Galerie. Radfahrer sausen durch, Jogger, Hunde und Spaziergänger laufen vorbei, während Stephanie uns erklärt, dass hier eine der ersten "(W)Halls of Fame" entstand: "Kuratiert und legal, die Künstler bewerben sich und gestalten einen Abschnitt. Die meisten bleiben zwei Jahre, dann bekommt ein anderer die Chance. Die Warteliste ist ziemlich lang...." Das allererste Werk von Lady Aiko, einer Künstlerin aus New York, ist nicht mehr da. Dafür aber ein versunkener Trabi von Mr. Woodland, Flamenco-Tänzerinnen, Paradiesvögel und ein City-Hai.
"Die Wand lesen"

"Eine Wand ist immer eine Wand", sagt Stephanie, "aber genau das macht es so spannend, jede ist unterschiedlich, sie sind glatt, rauh oder voller Löcher, manche saugen die Farbe wie ein Schwamm auf. " 30 Liter Farbe und 300 Sprühdosen wurden im Tunnel zu Füßen des Friedensengels in Kunst verwandelt, nationale und internationale Graffitigrößen eingeladen: Flin und Tonik74 aus München, Daim aus Hamburg, Kid Acne und Dotmaster aus England, Light und Markus aus Russland, Stuko aus Japan und Kelp aus Chile.
Wir schwingen uns wieder in den Sattel. Die Isar ist nach heftigen Gewittern am Vorabend randvoll gefüllt. Das braune Wasser schäumt weiß an den Staustufen. Die Isarauen haben sich schon mit Sonnenanbetern, Spaziergängern, Partypeople und Picknick-Gesellschaften gefüllt. "Blinkerzeichen" per Hand nach links oder rechts heißt: hier gibt es was zu sehen. Stephanie weist uns im Vorbeifahren auf weitere Graffitis hin - an der Brücke, auf einem Kiosk oder an einer Hauswand.
"It all started with a tag" - Street Art in München
Was mit "Tags", flüchtigen Kritzeleien, Unterschriften oder "Duftmarken" begann, mit denen sich die ersten Street Art Künstler in ihrer Stadt verewigten, hat sich inzwischen zu einer dynamischen und gefeierten Kunstrichtung entwickelt. Erster Spielplatz der Szene in München war in den frühen 80ern das Flohmarktareal an der Dachauer Straße, gleich hinter dem Leonrodplatz. Auf dem brach liegenden Kasernengelände trafen sich junge Künstler, Sprayer, Musiker und Bands.
"1985 gelang es einer Gruppe von Künstlern den ersten 'Wholetrain' in Europa, einen ganzen S-Bahn-Zug zu gestalten", erzählt Stephanie. Nach dem legendären "Geltendorf Train" übten die Isarmetropole und ihre Züge eine magische Anziehung auf die Street-"Artisten" aus aller Welt aus. Ganz vorn dabei: Matthias Köhler. Für den besprühten Zug musste er als Schüler zusammen mit den anderen eine hohe Geldstrafe bezahlen. Inzwischen ist er unter seinem Künstlernamen "Loomit" berühmt und hat sogar das Badezimmer des Ex-Oberbürgermeisters Christian Ude farblich "umgestalten" dürfen.
Next Stop: Brückengalerie am Candidplatz
Nicht alle arbeiten mit der Dose, manche nehmen auch den Pinsel, einen Marker, Schablonen oder Tape. So auch in der "Säulenhalle" of Fame unter der Brudermühlbrücke: 300 Meter Tape wurden hier von der Klebebande Berlin verarbeitet. Oben fließt der Verkehr des mittleren Rings unbeirrt durch. Unten wird die Brücke als Outdoor-Galerie vom MUCA bespielt: seit 2013 werden die Beton-Pfeiler von internationalen Künstlern wie Case Maclaim, L.E.T oder Herakut gestaltet. Die langhaarige Schöne des Australiers Rone lächelt lasziv gegen das Dauerrauschen des Straßenlärms an, die Busse halten neben einem Kind, das nach den Sternen greift, Sebastian Wandls Werk und Claim "Don't be a puppet" verwächst mit dem Beton... Der junge Künstler aus Frankfurt hat übrigens auch das Tor am MUCA gestaltet.
"Uns geht es darum, die Kunst in den öffentlichen Raum oder an Nicht-Kunstorte zu bringen", erklärt Stephanie. Farben und Bilder erobern die Straßen, Wände und Plätze. Gerade in einem Viertel und an einem eher grauen, tristen Durchgangsort, wo man es weniger erwartet, eine wundervolle Überraschung.
Graffiti Paradise: das Schlachthofviertel

Am ehemaligen Viehhof weht uns schon der süße Duft von Farbspray entgegen. Hier dürfen sich (noch) alle kreativ austoben. An der einen Wand versucht sich eine junge Nachwuchskünstlerin in Pink, während der Sprayer eine Ecke weiter seinen SLK Mercedes neben dem Gettoblaster geparkt hat. Nur ein Container mitten drin ist noch auffällig blütenweiß und unberührt. An jedem Fenster klebt ein Schild, auf dem steht "bitte, bitte, bitte nicht"... besprühen. Bisher hat sich die Community wohl dran gehalten.
Das Schlachthofviertel in der Isarvorstadt ist ein Mekka für große und kleine, unbekannte und berühmte Graffiti Artists. "Was aus dem Kreativ-Containerdorf 'Bahnwärter Thiel' und der Kunst-Mauer an der Tumblinger Straße werden soll, ist leider ungewiss", bedauert Stephanie. Die 40 Seecontainer wurden ausgebaut, gestaltet und aufgetürmt. Hier sprühen die Ideen, sprießen die Tomaten und Kräuter in den Urban Gardening Töpfen und wird abends Party gefeiert.
Wenn ihr Lust auf Extra-Touren habt: abseits der Isar haben noch die Unterführung unter dem Altstadtring zwischen Englischem Garten und Staatskanzlei, die Donnersberger Brücke oder der Giesinger Berg Kunst zu bieten...
Ultimate Stop MUCA - Museum of Urban and Contemporary Art
Nach etwa drei Stunden haben wir nach spannenden Schleifen und Kurven durch die Stadt unser Ziel erreicht: das MUCA (externer Link, öffnet neues Fenster), gleich zu erkennen an den schwarz-weißen Schnörkeln auf der Fassade, die der Berliner Künstler Stohead mit einer selbstgebastelten 5-Dosen-Konstruktion besprüht hat. In dem ehemaligen Umspannwerk der Stadtwerke mitten in der Altstadt hat es auf 2.000 qm Platz für Styles und Stencils, Graffitis, Murales, Installationen und Werke von Sprayern, Schablonen- und Klebekünstlern. "Das Spannende bei uns ist, das wir es zu 99 Prozent mit lebenden Künstlern zu tun haben. Wir wollen hier eine Brücke zwischen internationalem Fachpublikum, Künstlern und Öffentlichkeit schlagen", meint Stephanie. Deshalb ist Kunstvermittlung für das MUCA auch besonders wichtig: Künstler- und Expertengespräche, Lesungen, Führungen und Workshops von Graffiti bis Beat Box.
Informationen zur Radtour
Die Street Art Bike Tour (externer Link, öffnet neues Fenster) ist online buchbar. Dauer: 3,5 Stunden. Treffpunkt/Abfahrt: Kiosk am Eisbach „Fräulein Grüneis“, Eingang Englischer Garten Prinzregentenstraße.
Abb. ganz oben: eigentlich viel zu schade, um nur durchzusausen - ein Graffiti von HNRX in der Unterführung an der Cornelius-Brücke
Text & Bilder Nathalie Schwaiger