Seit einigen Jahren widmet sich das Stadtmuseum Kaufbeuren immer wieder der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Stadt. Dabei geht es darum, Geschichte begreifbar zu machen – die Erinnerung lebendig zu halten. Doch wie gelingt dies? Das Team des Stadtmuseums versucht in diesem Prozess möglichst häufig Gruppen aus der Stadtgesellschaft einzubeziehen. Gemeinsam stellen sie sich die Fragen: Wie hat sich der Nationalsozialismus hier verankert? Was genau ist in der Stadt passiert? Und was hat das eigentlich mit mir zu tun? Vor diesem Hintergrund entstand eine App zu den Kaufbeurer Stolpersteinen, bei deren Entwicklung eine Gruppe Jugendlicher beteiligt war.
Stolpersteine für Kaufbeuren
Ausgangspunkt für die App war die erste Verlegung von Stolpersteinen (externer Link, öffnet neues Fenster) im September 2020. Bei den Stolpersteinen handelt es sich um ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, der mittlerweile fast 100.000 solcher Erinnerungszeichen in Deutschland und europaweit verlegt hat. Auf kleinen quadratischen Messingplaketten wird die Kurzbiographie von Menschen eingraviert, die während des NS-Regimes verfolgt wurden. Diese Stolpersteine werden vor den letzten freiwillig gewählten Wohnorten im Trottoir verlegt – Passantinnen und Passanten werden auf ihren täglichen Wegen direkt im Stadtraum auf die unterschiedlichen Schicksale aufmerksam gemacht.
Die ersten vier in Kaufbeuren verlegten Stolpersteine erinnern an den jüdischen Kaufmann Ernst Buxbaum, den SPD-Stadtrat Georg Riedel, den polnischen Zwangsarbeiter Stefan Smiglarski und die Kaufbeurerin Marie Espermüller, ein Opfer der NS-„Euthanasie“. Da die Stolpersteine nur sehr kurz und knapp über das Schicksal der jeweiligen Personen informieren, bietet die App weiterführende Informationen, Fotos und historische Dokumente rund um die Biographien.
Die Biographien hinter den Stolpersteinen
Eines der Schicksale hinter den Kaufbeurer Stolpersteinen ist der jüdische Kaufmann Ernst Buxbaum. Anhand seiner Geschichte verdeutlicht sich eindrücklich, wie schnell die antisemitische Ideologie der Nationalsozialisten auch in der Kleinstadt Kaufbeuren Fuß fassen konnte. Ernst Buxbaum führte in Kaufbeuren ein erfolgreiches Textilgeschäft, in dem er zeitweise mehrere Mitarbeiter beschäftigte. Schon direkt nach der Machtübernahme 1933 geriet Ernst Buxbaum als einer von nur zwei jüdischen Bürgern in der Stadt in das Visier der Nazis. Es folgten öffentliche Boykott-Aufrufe gegen sein Geschäft sowohl in der Kaufbeurer Zeitung als auch bei einem Vortrag des fränkischen Gauleiters und Gründers der Hetzschrift „Der Stürmer“, Julius Streicher, der 1934 in Kaufbeuren auftrat. Die antisemitische Ausgrenzung und Hetze gipfelte 1938 in einer Anzeige wegen angeblicher „Rassenschande“, aufgrund der Ernst Buxbaum verhaftet wurde und in das Konzentrationslager Dachau überliefert wurde. Trotz Einstellung des Verfahrens wegen mangelnder Beweise blieb er in Haft.
Nach etwa einem halben Jahr wurde Ernst Buxbaum wieder freigelassen, jedoch fehlte jegliche Perspektive auf eine Rückkehr nach Kaufbeuren. Denn während seiner Haft waren seine Brüder gezwungen worden, sein Geschäft in Kaufbeuren weit unter Wert zu verkaufen. Ernst Buxbaum fand in München bei seinem Bruder Zuflucht. Nach den vermutlich schrecklichen Demütigungen in Dachau und fehlender Perspektiven nahm er sich dort 1940 das Leben. Bis heute haben sich nur sehr wenige Zeugnisse über Ernst Buxbaum und sein Leben in Kaufbeuren erhalten. Unter den wenigen Erinnerungsstücken, finden sich Fotografien, Dokumente und ein Kleiderbügel aus dem Geschäft von Ernst Buxbaum in der Museumssammlung. Sie werden nun ergänzend zum Stolperstein in der App digital sichtbar gemacht.
Von Jugendlichen entwickelt: Erzählfigur Elisabeth
Nun galt es die einzelnen Geschichten, wie die des jüdischen Kaufmanns Ernst Buxbaum, mittels eines roten Fadens miteinander zu verbinden. Dabei wurde das Stadtmuseum vom Stadtjugendring Kaufbeuren und einer Gruppe von sechs Mädchen und jungen Frauen zwischen 14 und 20 Jahren unterstützt.
So entstand die fiktive Erzählfigur Elisabeth, genannt Lisl, die von Stolperstein zu Stolperstein durch die Stadt führt. Im Workshop vertieften sich die Jugendlichen in die unterschiedlichen Biographien und führten ein Zeitzeugengespräch mit einer 89-jährigen Kaufbeurerin, die selbst die NS-Zeit als junges Mädchen erlebt hat. Die Workshop-Teilnehmerinnen recherchierten dabei verschiedene Details über die Lebenswirklichkeit einer sechzehnjährigen Schülerin in Kaufbeuren im Jahr 1943. Im Anschluss erarbeitete die Gruppe nicht nur die Sprechtexte der Figur, sondern nahm diese auch im später im Tonstudio selbst auf. Das Feedback zum Workshop war durchweg positiv, so blickt die 15-jährigen Noemi auf das Projekt folgendermaßen zurück: „Mein Highlight diese Woche war das Entwickeln der Figur Elisabeth, weil das einfach total viel Spaß gemacht hat, mit allen Ideen auszutauschen und zu überlegen, was am realistischsten wäre.“ Die 15-jährige Pia ergänzt: „Das Coolste an dieser Woche war, dass alle gut mitgearbeitet haben, alle interessiert waren, und dass viele kreative Ideen dabei waren und dass es einfach ein schönes Miteinander war.“
Wie funktioniert die App?
Die Hörbeiträge bilden in der App eine Rahmenerzählung – jeweils nach einer kurzen Einführung durch Elisabeth sind die Nutzerinnen und Nutzer der App dazu eingeladen, anhand eines kurzen Textes, Fotos, Dokumenten und weiteren Hör- und Videobeiträgen mehr über das Schicksal der jeweiligen Person zu erfahren. Insgesamt deckt die App vier Biographien ab sowie die Stationen Stadtmuseum und Rathaus als Wegpunkte des Rundgangs. Die Station Rathaus enthält weitere Hintergründe zur Stadtpolitik zwischen 1933–1945. Den Start- und Endpunkt des Rundgangs bildet das Stadtmuseum, wo bei Bedarf noch vertiefend die Dauerausstellung zum 20. Jahrhundert mit Filmen über den Nationalsozialismus in Kaufbeuren angesehen werden können. Für den Rundgang wird etwa eine Stunde Zeit benötig. In der App sind Wegbeschreibungen mit Karte hinterlegt, alternativ ist die Nutzung einer Online-Karte möglich, in der die Stationen sowie der eigene Standort angezeigt werden.
Was hat das mit mir zu tun? – Selbst aktiv werden!
Stadtführungen mit App
Um die App lebendig und auch fortlaufend im Gespräch zu halten, gibt es ab sofort eine Stadtführung (externer Link, öffnet neues Fenster), in der die App als Speicher für Anschauungsmaterial genutzt wird. Die App bietet interessierten Führungsteilnehmerinnen und –teilnehmern nach dem Rundgang nochmal die Möglichkeit, in Ruhe mehr über die verschiedenen Schicksale zu erfahren. Die Führung findet von Frühling bis Herbst monatlich statt, für Schulklassen wird bis zum Herbst 2023 ein eigenes Format mit Einbindung der App konzipiert.
Hier könnt ihr die App downloaden
Alle weiteren Informationen zur App und zum Download finden sich unter:
Die App konnte im Rahmen des Förderprojekts „fabulAPP. Ein Baukasten für digitales Storytelling im Museum“ der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen und der Bayerischen Sparkassenstiftung realisiert werden. Weitere finanzielle Unterstützung erhielt das Stadtmuseum Kaufbeuren im Bundesprogrammm „Demokratie leben!“ sowie durch den Freundeskreis des Kaufbeurer Stadtmuseums e.V.
Ein Gastbeitrag von Petra Weber M.A.