Ein Museum ohne Sammlung
Als das Deutsche Medizinhistorische Museum Ingolstadt – kurz „DMMI“ – im Juni 1973 in dem barocken Gebäude der „Alten Anatomie“ eröffnet wurde, war diese Säge noch nicht dabei. Das verwundert wenig. Denn als der Stadtrat von Ingolstadt die Gründung des Museums beschloss, gab es noch überhaupt keine Sammlung!
Das einzige – und wie man immer wieder betonte, wichtigste – Objekt war das frisch restaurierte barocke Gebäude selbst. Immerhin war das ab 1723 für die Medizinische Fakultät der Bayerischen Landesuniversität errichtet worden. Hier wurden die bayerischen Ärzte ausgebildet, bis die Universität im Jahr 1800 nach Landshut (und später nach München) verlegt wurde.
Das Museum war mit fest installierten Wandvitrinen ausgestattet worden. Für das Kuratorenteam – allesamt Mitarbeiter/-innen des Instituts für Geschichte der Medizin an der LMU München – war es eine große Herausforderung, die Vitrinen für die Eröffnung zu gestalten. Sie konnten ja auf keine gewachsenen Sammlungsbestände zurückgreifen. Doch inzwischen war bereits ein Förderverein gegründet worden. Mit seiner Hilfe gelang es, die finanziellen Mittel für erste Ankäufe aufzubringen und ein Netzwerk zu sammelnden Ärzten und Ärztevereinigungen aufzubauen, die mit Spenden und Leihgaben wesentlich dazu beitrugen, dass nicht mit leeren Vitrinen eröffnet werden musste.
Im Windelkoffer über die Grenze
Der Aufbau einer eigenen, qualitätvollen Sammlung war das Gebot der Stunde. Noch in der Anfangszeit des Museums gelang ein grandioser Coup: Bei einem Antiquar in Paris konnte eine 14 Teile umfassende Kollektion chirurgischer und geburtshilflicher Instrumente aus dem 14. bis 17. Jahrhundert erworben werden. Neben Kugelbohrern, Fasszangen und Spekula gehörte zu diesem Konvolut auch die eingangs gezeigte große Amputationssäge („Serra magna“) aus dem 16. Jahrhundert.
Auch wenn diese wertvollen Objekte durch Christa Habrich, die spätere Museumsdirektorin, ganz legal bei dem Pariser Händler gekauft worden waren, hatte sie doch ein „mulmiges Gefühl“, als sie sich der französisch-deutschen Grenze näherte. Damit ihr der Zoll nicht dazwischenfunken konnte, verstaute sie das Instrumentarium kurzerhand im Koffer ihres Neffen, der damals noch ein Baby war, bedeckte alles mit seinen Windeln und kam damit ungeschoren über die Grenze. Das Auspacken in Ingolstadt sei dann „ein kleines Fest gewesen“. Mit den neu erworbenen Instrumenten wurde eine große Wandvitrine bestückt. Die „Serra magna“ erhielt einen Ehrenplatz als zentrales Objekt im unteren Bereich der Vitrine.
Weniger ist mehr
Die Sammlung wuchs immer mehr an. Das machte es möglich, die Vitrinen thematisch enger zu fassen und die Dauerausstellung auf die Geschichte der abendländischen Medizin zu beschränken. Zwischen 2009 und 2011 wurde das neue Konzept umgesetzt. Vor die düsteren Eichenpaneele kamen hell gestrichene Platten. Die vorher sehr knappen Erläuterungen wurden durch Objekt- und Vitrinentexte ergänzt, so dass die historischen Zusammenhänge deutlicher wurden. Gleichzeitig wanderten etliche Objekte aus dem Museum ins Depot. „Weniger ist mehr“, hieß nun die Devise. Die „Serra magna“ durfte bleiben. Sie fand ihren neuen Platz in einer Vitrine im Gartensaal, die der frühneuzeitlichen Chirurgie gewidmet war. Kurze Texte erläuterten nun die Handhabung der Instrumente, aber auch die Situation der Patienten.
Neue Möglichkeiten
Nicht nur die Vitrinen benötigten nach 40 Jahren eine Auffrischung. Die gesamte bauliche Situation war nicht mehr zeitgemäß: kein Foyerbereich, keine Garderobe, kein Shop und kein Café, ganz zu schweigen von der fehlenden Barrierefreiheit. Im Sommer 2016 konnte an der Stelle des früheren Verwaltungsgebäudes ein moderner Anbau eröffnet werden. Anschließend wurde die Alte Anatomie saniert und 2020 mit einer neuen Dauerausstellung wiedereröffnet. Durfte die „Serra magna“ weiter mitspielen?
Helfen mit geschickten Händen
Ja, die große Säge blieb an Bord. Aber sie diente nicht mehr dazu, die Technik der Amputation zu erklären. Diese Funktion übernimmt nun eine zierlich geschwungene barocke Säge. Sie wird ergänzt durch Amputationsmesser, ein Tourniquet zur Blutstillung und ein chirurgisches Lehrbuch mit einem anschaulichen Kupferstich zur Durchführung der Amputation. Diese Vitrine ist Teil des Raumes „Helfen mit geschickten Händen“ im Obergeschoss der Alten Anatomie.
Bei den „Starken Dingen“
Die „Serra magna“ dagegen hat eine neue Rolle zugewiesen bekommen: Sie präsentiert sich im Erdgeschoss als Ausgangspunkt einer Objektreihe zur Evolution der (medizinischen) Säge, die mit Modellen aus aktuellen Musterkoffern endet. Diese SÄGEN überschriebene Vitrine ist eines von insgesamt 21 Modulen im Ausstellungsbereich „Starke Dinge“. Sie sind ganz unterschiedlichen Aspekten der Medizin gewidmet, von ATMEN über ERKÄMPFEN bis hin zu VERSTUMMEN.
Wir sind schon jetzt gespannt, in welchem Kontext unsere großartige „Serra magna“ wohl bei der nächsten Neukonzeption verortet sein wird. Aber bis dahin werden noch etliche Jahre ins Land gehen.
Ausstellungen im Deutschen Medizinhistorischen Museum
Weitere Impressionen aus dem Medizinhistorischen Museum
Unser Tipp!
Die Reihe „Mittagsvisiten“, immer Dienstag von 12.30 Uhr bis 13.00 Uhr. Vor Ort oder live per Zoom. Aktuelle Termine:
Alle Veranstaltungen (dmm-ingolstadt.de) (externer Link, öffnet neues Fenster)
Sowie Kuratoren-Führungen durch die Sonderausstellungen auf dem YouTube-Kanal DMMIvideo:
DMMIvideo - YouTube (externer Link, öffnet neues Fenster)
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger